Jeder Mensch braucht eine Art inneren Kompass, an den er sich halten kann. In besonderem Maße gilt das für Künstler und Kulturschaffende. „Ich halte mich an den Herrenberger Altar von Jerg Ratgeb“, sagte HAP Grieshaber, „an seine Kunst der religiösen und revolutionären Tendenz“.

Am 27. Mai 1975, dem 450. Todestag von Thomas Müntzer, gleichzeitig dem Tag der Einweihung der Thomas Müntzer Scheuer, schrieb er den Jerg-Ratgeb-Preis aus.
Er wollte damit korrigieren, was der damalige Kultusminister Baden-Württembergs über die Kunst der Maler in den 1970er Jahre gesagt hatte, wonach eine gewisse Ermüdungserscheinung bei politischen und sozialkritischen Themen eingetreten sei. Der Jerg-Ratgeb-Preis sollte ein Preis sein genau dafür: für politisch und sozial engagierte Kunst.
Margarete Hannsmann, Rainer Zierock und HAP Grieshaber bei der Einweihung der Thomas Müntzer Scheuer
Jerg Ratgeb, ein in Schwäbisch Gmünd gebürtiger Maler, hatte sich künstlerisch, sozial und politisch für die Sache der Bauern engagiert. Mit dem Herrenberger Altar schuf er ein Altarwerk, in dem sich die Bäuerinnen und Bauern wiederfanden. Es war eine Anklage gegen die herrschenden Zustände: Jesus wird in einem Fürstenhaus gegeißelt und gequält, in einer Halle mit den Insignien der damaligen Herrscher, geschlagen von Landsknechten der damaligen Zeit.
Ratgeb war Mitglied des Stuttgarter Rates und wurde von den Bauern als Kriegsrat und Kanzler gewählt. Wegen seines engagierten Eintretens für die Bauern wurde er nach dem Ende des Bauernkrieges in Pforzheim durch Vierteilung mit Pferden hingerichtet.
Entgegen HAP Grieshabers Erwartungen beteiligten sich die Städte Jerg Ratgebs, Schwäbisch Gmünd, Pforzheim, Heilbronn und Stuttgart nicht an dem Preis. Er wurde von ihm und Rolf Szymanski 1977 an Rudolf Hoflehner vergeben und 1978 – von den Asten der Uni Hohenheim und der Kunstakademie Stuttgart zusammen mit der Kulturgemeinschaft des DGB – an Theodor Kempkes. Inzwischen wird er von der VG Bild-Kunst verliehen.

In seiner Rede zum Jerg-Ratgeb-Preis machte HAP Grieshaber die Studentenschaft auch auf den satirischen Charakter des Holzschnitts „Fryheit“ aufmerksam. Das sei kein revolutionärer Bauer, der da abgebildet sei, sondern ein fahnenschwingender Landsknecht. Dieser Holzschnitt stamme aus der Flugschrift des katholischen Publizisten und Satirikers Thomas Murner, der damit Luther und die Reformation bekämpfen wollte. In Murners Streitschrift seien es drei fahnenschwingende Landsknechte, die boshaft und voll Dünkel wie Kampfhähne die Symbole „Evangelium“, „Wahrheit“ und „Freiheit“ in den Dreck ziehen. Das sei ironisch gemeint. „Was hier geschwungen wird ist reiner Hohn, Gift und Galle“, so Grieshaber. „Niemals ist mit diesem Holzschnitt an die Freiheit appelliert, die wir uns immer wieder nehmen müssen, um unsere Konflikte zu lösen“. Die Fahnen der Bauern seien die des Armen Konrad, die Bundschuhfahne, die Regenbogenfahne und die der verschiedenen Bauernhaufen gewesen.
Vom Asta der Uni Hohenheim wurde der Murner-Holzschnitt als Emblem damals ausgetauscht gegen den Holzschnitt von HAP Grieshaber „Für Jerg Ratgeb“. Grieshabers aufklärerische Worte sind aber offenbar nicht überall angekommen. 50 Jahre später, zum 500. Jahrestag des Bauernkrieges, wird Murners Landsknecht immer noch als revolutionärer Bauer angesehen. Deshalb sei Grieshabers Hinweis an dieser Stelle wiederholt: der protzige Fahnenschwinger ist kein Bauer und die mit Kreuzen und Verzierungen bemalte Fahne keine Bauernfahne. Der Holzschnitt ist eine Verhöhnung der Bauern und ihrer Forderungen.



Links: HAP Grieshaber: Für Jerg Ratgeb, Mitte: Theodor Kempkes: Joß Fritz wirbt für den Bundschuh, Rechts: Thomas Murners fahnenschwingender Landsknecht, eine Verhöhnung der Bauern.



Weitere Holzschnitte von Thomas Murner, die die Verhöhnung der reformatorischen und bäuerischen Forderungen deutlich machen: Landsknechte mit lächerlichem Kopfputz und Fahnen mit „Wahrheit“, „Evangelium“ und einem eigenwilligen Bundschuh.